Findelkind
Findelkind
Wie ich während einer Fahrt mit dem Nachtzug durch Rumänien fast zum Vater wurde...
Ich lebte Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts knapp zwei Jahre in Rumänien und habe als DAAD-Stipendiat im transylvanischen Hochland osteuropäische Folklore erforscht. Dafür musste ich oft zwischen Bukarest und Klausenburg pendeln. Das tat ich besonders gerne mit dem Nachtzug, der mit maximal 80km/h durch die wilde, weite Landschaft fuhr. Man ist da in einen Wagon eingestiegen, der mit handgehäkelten Gardinen vor den Fenstern und schwarzen Tee vom Schaffner vorbei an spärlich erleuchteten Ansiedlungen durch eine menschenleere Traumwelt ratterte. Die Tickets waren für westliche Verhältnisse unsagbar günstig und wenn man dem Schlafwagenschaffner ein kleines Trinkgeld überreichte, dann konnte man sogar ein ganzes Abteil für sich alleine haben. So war es auch auf besagter Fahrt im Winter 1998 kurz vor Weihnachten.
Ca. 1 Stunde nach Verlassen des Bukarester Nordbahnhofs – ungefähr gegen Mitternacht - muss ich pinkeln, stehe auf und gehe zur Zugtoilette. Draußen ist es verschneit, bitterkalt, aber im Zug ist es wohlig warm, er wird mit einem Kohleofen geheizt. Ein greller Mond scheint von einem sternenklaren Himmel hinab und durch die Gangfenster hindurch. Das Pinkeln in einer rumänischen Zugtoilette ist eine komplexe Angelegenheit. Nicht nur, weil der Zug ständig und unvermittelt heftig von der einen zur anderen Seite schwankt und dabei ruckelt, was nur durch intensives Festhalten an ziemlich verdreckten Wänden und zwischenzeitliches eigenkörperliches Ausbalancieren einem davor bewahrte, auszurutschen und auf den schmierigen Boden zulanden, ja sogar irgendwie mit der Kloschüssel oder deren Innenraum ungeschickt in Berührung kommen könnte. Es ist also ein obszöner Surfing-Spaß.
Dieses Mal aber wandert meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Phänomen der Bewegung im Raum, das sich unter dem Waschwecken direkt rechts von mir abspielt: dort steht nämlich ein „Türkenkoffer“ (eines dieser großen rot-blau-weiß-karierten Plastiktaschen, wie man sie in Billig-Läden kaufen kann), der Töne von sich zu geben scheint.
Zuerst denke ich, ich täusche mich, der Zug lärmt ja unablässig. Ich schaue aber genauer hin, als ich ein weiteres Geräusch wahrnehme. Ich bin verwundert, gleichzeitig neugierig und denke mir: „Ist da vielleicht ein Hund drin?“. Ich vergesse, dass ich eigentlich pinkeln will und mache ich mich daran, die Tasche zu inspizieren. Ich öffne den Reißverschluss auf der Oberseite, schaue in die Tasche hinein und finde ein Haufen feuchter, weißer Leintücher vor, wie man sie vor der Erfindung der industriell produzierten Pampers als Windeln verwendete.
Ich nehme eine weitere Bewegung und ein leichtes Krächzen weiter unten im Tücherhaufen wahr. Es ist neben dem ganzen Zuggeratter klar eine menschliche Stimme zu vernehmen und ich spüre einen Adrenalinschub durch meinen Körper laufen, als ich die Tücher vorsichtig abhebe. Ganz unten auf dem Boden der Tasche liegt ein kleines Menschenbaby, eingewickelt in einen Kokon aus weißen Leintüchern, aus dem ein winziges Mondgesicht hervorschaut. In der Toilette ist es arschkalt und ich mache mir Sorgen. Das Baby verkrampft sein Gesicht, als ob es weinen möchte, seine Augen sind mit einer Art braunem Talg verklebt. Es ist so perfekt eingewickelt, dass es wie eine ägyptische Mini-Mumie anmutet, die gerade wundersam lebendig geworden ist. Es ist unwirklich, schön, aber auch unheimlich. Aus einem Instinkt heraus habe ich gehandelt: ich trage das Baby in der Tasche aus der Toilette heraus und gehe mit ihm zum Abteil des Nachtwagenschaffners. Der hatte anscheinend schon geschlafen und öffnet die Tür erst nach minutenlangem Klopfen. Er fragt mich schlecht gelaunt nach meinem Begehr und ich zeigte ihm den Inhalt der Tasche in meinen Händen. Er bekreuzigt sich. Er weist mich an, mit dem Baby in mein Abteil zurück zu gehen, die Tür offen zu halten und auf ihn zu warten. Die Kommunikation findet auf Rumänisch statt. Ich hatte wegen meiner Arbeit, die mich immer wieder zu Bauern auf dem Land führte, schnell die kommunikativen Grundlagen dieser Sprache erfasst und konnte mich deshalb verständigen. Was für ein Glück in diesem Fall!
Ich sitze also irgendwo mitten in Rumänien im Abteil eines Nachtzuges mit einem in der Zwischenzeit schlafenden Baby in meinen Armen. Ich schaue das Kind an, mit seiner ebenmäßigen oliv-dunklen Haut und seinen verklebten Augen im mondrunden Gesicht. Ich überlege mir, ob ich seine Augen vom Talg befreien sollte, denke mir aber: es soll lieber schlafen, das verschafft mir Zeit. Dann spüre ich ein wachsendes Unbehagen: schläft das Kind vielleicht jetzt, weil es total erschöpft ist und weil es schon seit langer Zeit nichts mehr getrunken hat? Hoffentlich verdurstet das Kind nicht...in meinen Armen! Was soll ich nur tun? Ich lege meinen Kopf nahe an sein Gesicht und höre sein ruhiges Schnaufen.
Plötzlich erscheint der Schlafwagenschaffner an der Tür und hinter ihm drei weitere Fahrgäste, die von der Aktion geweckt wurden. Er betritt den Raum, und gibt mir einen Plastikbecher mit einer klaren Flüssigkeit darin. Ich frage, was das ist. Wodka. Warum denn Wodka? Ich solle meine Hände damit desinfizieren. Wie bitte? Es handele sich ja bestimmt um ein „Zigeunerbaby“ und die seien zumeist HIV infiziert. Die Mütter würden die Neugeborenen gerne irgendwo abstellen, um die Kinder davor zu retten, von ihren Ehemännern getötet zu werden, in der Hoffnung, dass sie jemand findet, der sie dann mitnimmt und bei einem Waisenhaus abgibt. So hätten sie wenigstens eine reale Überlebenschance. Ich halte den Wodkabecher irritiert in einer Hand, die andere hält das Kind an meinen Bauch gedrückt. Der Schaffner sagt, er müsse den Zugführer informieren und verschwindet wieder. Die anderen Fahrgäste drängen sich in mein Abteil und eine dicke ältere Frau im schwarzen Kostüm setzt sich neben mich auf die Schlafcouch. Auch sie bekreuzigt sich und sie schimpft. Ich sei doch ein Idiot. Warum ich das Kind nicht einfach in der Toilette habe stehen lassen. Jetzt habe ich das Kind und könne es mit nach Hause nehmen, denn niemand wird es mir je wieder abnehmen. Was für ein Malheur! Woher ich überhaupt komme, ich sei doch gar kein Rumäne. Was die Sache mich überhaupt angehe und ich mich einmische? Ob ich ein Sachse auf dem Weg in die Heimat sei? Ich erkläre ihr, ich käme aus Berlin und würde in Rumänien Musik studieren. Sie sagt, dann würde es doch passen, ich sei jetzt eben für das Baby verantwortlich, könne mein Kind doch mit nach Deutschland nehmen. Vielleicht würde ja noch ein berühmter Musiker aus ihm werden. Ich frage: „Warumer, es könnte doch auch ein Mädchen sein?“ Sie erwidert: „Na dann lass uns doch gleich mal nachschauen, das Kind muss auf jeden Fall inspiziert und frisch gewickelt werden. Willst du das alleine tun, oder soll ich Dir helfen?“ Ich entscheide, mir helfen zu lassen. Wir stehen auf und legen das Kind auf die Schlafcouch. Das Kind schläft währenddessen weiter und sie rollt es behutsam aus seinem Kokon aus. Dann liegt es nackt wie das Jesuskind vor uns im Bett meines Abteils. Es ist ein Mädchen. Die Frau sagt, es sei noch nicht lange her, dass es geboren wurde. Vielleicht ein paar Tage. Aus seinem Bauchnabel hängt noch ein Teil der Nabelschnur heraus. Und die Windel ist ziemlich schmutzig. Die Dame nimmt eine Packung Tempotaschentücher aus ihrer Handtasche, die sie bei sich trägt. Sie bittet um den Wodkabecher, den ich immer noch in der Hand halte, beträufelt mit dem Inhalt ein paar Taschentücher und reinigt mit ihnen den Popo des Kindes. Das Kind ist in der Zwischenzeit aufgewacht und grummelt vor sich hin. Es scheint dabei aber recht entspannt zu sein und atmet ruhig mit geschlossenen Augen. Das beruhigt mich. Die Frau fragt mich, ob ich ein T-Shirt bei mir habe, das ich entbehren könne. Sie würde daraus eine neue Windel machen. Ich hole meinen Reisekoffer hervor und krame ein Shirt heraus. Sie nimmt es, zerreißt es und macht sich ans Werk. Sie scheint sich mit der Materie auszukennen. Zwei Männerköpfe schauen uns die ganze Zeit durch die Abteiltür zu. Sie rauchen und scherzen. Es sind Phrasen wie Zigeuner, „immer wieder das Gleiche“, Skandal und „arme Gesellschaft“ zu vernehmen. Dann bremst der Zug plötzlich ab und wir fahren in eine Station ein. In der Zwischenzeit hat es leicht zu schneien angefangen und der Bahnsteig wird von ein paar schwachen Funzeln in gelbes Licht getaucht, was dem Schneegestöber eine unwirkliche Atmosphäre verleiht. Es steht auf der Plattform eine einzige Person: ein Polizist und der raucht. Der Zug kommt zum Stehen. Ich beobachte, wie der Nachtwagenschaffner aussteigt und zum Polizisten geht. Die Beiden unterhalten sich. Der Polizist schüttelt immer wieder den Kopf. Der Schaffner redet heftig auf ihn ein. Der Polizist erwidert den einen oder anderen Satz und schüttelt weiterhin den Kopf. Dann bekreuzigt er sich, dreht sich abrupt um und geht weg. Der Schaffner steht alleine da und gestikuliert wild. Die Szenerie ist wie aus einnem Stummfilm, die Fenster meines Abteils bleiben trotz meiner Neugierde nicht nur wegen der Kälte verschlossen, sondern auch, weil sie vo außen mit Isolationsschaum versiegelt sind.
Der Schaffner steigt ein, seine Pfeife ertönt und der Zug fährt an. Das Kind liegt auf der Couch, die Leute diskutieren und ich frage mich, ob sie Recht behalten würden, mit der Prophezeiung, dass dieses Kind bei mir bleiben würde. Dann kommt der Schaffner zurück ins Abteil und flucht laut vor sich hin: „Pizda massi“ (Pussi deiner Mutter) and so on. Er erklärt, der Polizist habe es abgelehnt, das Kind an sich zu nehmen, weil es in der Umgebung des Ortes des Bahnhofs kein Krankenhaus gäbe und er wollte persönlich keine Verantwortung übernehmen. Er habe darauf hingewiesen, dass es im Ort des nächsten Bahnhofes, der sich in ca. 45min Reichweite befände, ein Krankenhaus gäbe und er würde gleich nach Abfahrt des Zuges dort anrufen und einen Krankenwagen bestellen.
Als wir nach knapp einer Stunde bangen Wartens und persönlicher Fürbitten, dass das Kind in der Zwischenzeit nicht sterben möge, an besagtem Bahnhof ankommen, steht ein Krankenwagen auf der Plattform und unter einer weiteren Orangelichtfunzel stehen zwei Gestalten in weißen Kitteln. Als der Zug steht, steigt der Schaffner aus und ruft die Beiden zu sich. Einige Minuten später befinden sich ein Arzt und eine Krankenschwester in meinem Abteil. Die Krankenschwester ist jung, hübsch und blond, der Arzt alt, dick und hat eine Schnapsnase auf der eine große fettige Hornbrille sitzt. Die Krankenschwester jauchzt leise, nimmt das Baby hoch und spricht zärtlich zu ihm. Der Arzt nörgelt etwas für mich Unverständliches und fragt nach der Sachlage. Er fragt, wo und unter welchen Umständen das Kind gefunden wurde. Ich erkläre es ihm. Er fragt mich, ob ich über die Eltern des Kindes Vermutungen habe. Ich verneine. Dann sagt er zu mir: „Sie haben heute Nacht das Leben eines Menschen gerettet. Ich bedanke mich im Namen aller rumänischen Arzte bei Ihnen! Ich denke, sie sollten dem Kind nun einen Namen geben, das steht ihnen zu!“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich frage, was mit dem Kind passiere. Er fragt mich, ob ich es zu mir nehmen wolle. Ich könne es adoptieren, das sei möglich. Ich sage, ich bin zu jung, Musiker auf Tournee und ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee sei. Die Krankenschwester sagt, das Kind käme zuerst ins örtliche Krankenhaus, um dort untersucht zu werden. Dann würde es gefüttert und am nächsten Tag wahrscheinlich in ein Waisenhaus gebracht werden. Man werde sich im Folgenden bemühen, die Eltern zu ermitteln, was aber zumeist hoffnungslos bleibe. Ich kenne aus den Medien die Schreckensgeschichten der rumänischen Waisenhäuser. Was soll ich tun? Ich entscheide mich, den Arzt und die Krankenschwester zu bitten, das Kind an sich zu nehmen. Ich bitte sie außerdem, sich darum zu kümmern, dass es dem Kind gut ergehen wird. Der Arzt bittet mich um meine Telefonnummer, die ich in sein Notizheft schreiben soll. Wenn sich etwas ergeben würde, würde er mich informieren. Ich solle beruhigt sein, nicht alle rumänischen Waisenhäuser seien Kindergefängnisse. Der Arzt sagt, es würde nun pressieren und ich solle dem Kind noch einen Namen geben. Mir fällt nichts ein. Mit dem das Abteil verlassendem Ärzteteam verschwand das Kind aus meinem Leben. Das in den Kokon eingewickelte Mondgesicht besuchte mich aber noch Jahre danach in meinen Träumen.
Paper1119
05.11.2019