Ein Sommer in der ostthüringischen Stadt Gera 2017: „Ein böser Geist“
Ein Sommer in der ostthüringischen Stadt Gera 2017: „Ein böser Geist“
Maurice de Martin
„Ein böser Geist“ (histoire grotesque)
Installation (2018) & Text
Ich bin nach Gera gekommen, um eine temporäre Kunstakademie zu leiten. In diesem Kontext möchte ich das neue Kulturzentrum zum Tag der Arbeit 2017 „pluralistisch“ beflaggen und damit einen künstlerischen Gruß an alle Arbeiter*innen aussenden.
Im Zentrum der Stadt ist eine Großdemonstration der rechtsradikalen Gruppierung „Der Dritte Weg“ sowie eine Reihe Gegenveranstaltungen des „Bündnis gegen Rechtsradikalismus“ angekündigt. Die Nazis werden direkt vor dem Kulturzentrum vorbeimarschieren. Der Vorsitzende des Bündnisses nimmt mein Kunstprojekt -ohne vorheriger Absprache mit mir- in das offizielle Programm seiner Veranstaltung auf, proklamiert das Kulturzentrum kurzerhand für die Antifa als „Schutzraum“ und schickt ein Rundschreiben raus. Die Mitglieder meiner Akademie würden die eintreffenden Aktivisten ehrenamtlich mit Tee und Stullen versorgen. Ich teile ihm mit, dass das so nicht gehe. Er solle doch bitte zum nächsten Plenum kommen und erst einmal sein Anliegen vortragen. Er kommt vorbei und trägt sein Anliegen vor. Es herrscht eine peinlich angespannte Atmosphäre. Menschen, die kurz vorher fröhlich und neugierig diskutierten, hören plötzlich mit geradezu versteinerten Mienen zu. Meine Akademiemitglieder befinden, wir seien zu wenig Leute für die Absicherung eines so großen, leeren Hauses, eine Öffnung wäre deshalb zu riskant. Wir sollten uns außerdem voll und ganz auf unser Projekt konzentrieren. Nach kurzer Diskussion entscheiden wir einstimmig gegen eine Öffnung des Hauses zum Tag der Arbeit und ich bitte den Vorsitzenden um Verständnis. Die Schelte erfolgt umgehend über eine öffentliche Facebook-Gruppe. Der Vorsitzende schimpft, die Künstler vom Kulturzentrum seien sich für ein Engagement gegen Rechts anscheinend zu „fein“. Ein Akademiemitglied zeigt sich besorgt. Sie findet, ich habe den stadtbekannten Intriganten mit dieser Aktion vorgeführt. Man könne jetzt davon ausgehen, dass er wütend auf mich sei und müsse deshalb zukünftig vorsichtiger agieren.
Ich erinnere mich an ein KPD-Plakat aus den 20ern, das ich im Büro einer Marzahner Galerie gesehen habe: „Genosse Künstler - für WEN malst DU?“
Über Social Media hatte ich dazu aufgerufen, Flaggen vorbeizubringen. Innerhalb von drei Wochen sind knapp 100 Exemplare aus allen Teilen der Welt eingetroffen. Am Abend des 30.04. beginnen wir (es nehmen rund 40 Menschen teil) das Gebäude rundum zu beflaggen. Es sind hierfür sogar Leute aus dem Umland und Berlin nach Gera gekommen. Nach der Arbeit gibt‘s ein gemeinsames Abendessen in der Küche meiner Gästewohnung. Die Stimmung ist gut. Man spricht über die vielen leeren Räume, die unheimliche Atmosphäre darin und was aus dem Kulturzentrum einmal werden würde. Eine ältere Dame erzählt, dass während des Bombardements Geras am Ende des Krieges im Keller des Gebäudes -damals ein Mädchenheim- 102 Menschen unter furchtbaren Umständen umgekommen seien: Im Luftschutzbunker bei lebendigem Leibe mit kochendem Wasser verbrüht, als eine Bombe ins Haus einschlug und die riesigen Heißwasserkessel der Badeanstalt über dem Schutzraum platzten. Unsere Küche wird daraufhin von einer sich als Esoterikerin ausgebenden Hairstylistin aus dem nahen Ronneburg mit einem Traumfänger ausgewedelt und das gesamte Haus „pink einmeditiert“. Nun kann also nichts mehr schief gehen.
Trotzdem empfiehlt man mir -ich wohne ja ganz alleine im Gebäude- an diesem Abend besser nicht im Haus zu schlafen. Man habe Angst, es würden irgendwelche Leute schlimme Sachen anstellen und ich dabei in Gefahr geraten. Brandstiftung oder so. „Mit Nazis ist nicht zu spaßen!“. Ich entschließe mich trotzdem, in meiner Gästewohnung im obersten Stockwerk des Hauses auszuharren. Eine junge Studentin aus dem Westen und ihr riesiger Hund bewachen mich bis in die frühen Morgenstunden. Wir trinken Bio-Kräutertee und sie erzählt mir, dass sie nach dem Motto „Live Love - Love Life“ lebe, „Buddhistische Wohlfühlmassage“ mache und vor kurzem mit Kommilitoninnen einen Stadtförderverein gegründet habe, der in Gera u.a. für sexuelle Vielfalt sorgen und dafür im kommenden Jahr den ersten Geraer Christopher Street Day installieren wolle. Der Kulturbeauftragte der Stadt (Spitzname „Stasi-Krüger“) sei begeistert und habe volle Unterstützung zugesichert. Ich stelle mir vor, wie man den Christopher Street Day versehentlich am gleichen Tag wie „Rock für Deutschland“ durchführt und ich dabei als Drag Queen auftrete.
Ein paar Wochen später erfahre ich vom Wirt des einschlägigen AfD-Treffs „Café Z.“, dass das schon passiert ist. Ein lokaler Theatermacher sei als in SS-Uniform verkleideter Transvestit mit Polizeieskorte in eine rechtsradikale Veranstaltung reingelaufen, habe den anwesenden Leuten dabei erklärt, was für Idioten sie seien und dafür vom Rundfunk den „Humor gegen Rechts“-Preis erhalten. Das sei ein gutes Beispiel für jene linksgrünversiffte Gutmenschenpädagogik, die keinen Sinn für die wahren Probleme in diesem Land habe und über solcherart dämliche Kunstaktionen die Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen immer nur noch mehr aufreiße! Er rät mir, mich für alle Seiten offen zu halten. In der AfD gäbe es durchaus kunst- und kultursinnige Leute mit Geld. Wenn ich wolle, könne er gerne Kontakte herstellen. Er kann noch nicht ahnen, was ein Berliner Künstlerkollektiv seinem Parteichef ein Jahr später vor seine Haustür bauen wird.
Der betont weltoffen auftretende Herr vom AfD-Treff will Geras nächster Bürgermeister werden. Er wird erst in der Stichwahl an einem parteilosen ehemaligen Bänker scheitern. Das Hauptanliegen des AfD-Kandidaten ist es, die Stadt v.a. nachts wieder sicherer zu machen. Es gäbe in Gera seit der Einrichtung des Erstauffanglagers zu viel Unruhe. Ich denke: Selten habe ich eine ruhigere Stadt erlebt. In den Abendstunden ist die „Sorge“ (so heißt die Geraer Fußgängerzone) so verwaist, dass einem natürlich die Gruppen junger Männer aus Nordafrika und Persien auffallen müssen - weil sie neben den Schichtarbeitern und den paar Obdachlosen am Heinrichsplatz die Einzigen sind, die den öffentlichen Raum für sich in Anspruch nehmen. Wenn man nachts durch die Straßen geht, ist die allgegenwärtige Einsamkeit entweder sehr romantisch oder ziemlich unheimlich. Der Bürgermeisteranwärter sagt, es habe einen Grund, warum sich die Gerschen nach 20 Uhr nicht mehr vors Haus trauten. Ich könne mir nicht vorstellen, was sich dafür in den Kleingärten am Stadtrand abspiele. Auch beim Gegenkandidaten standen Sicherheit & Ordnung im Zentrum des Wahlkampfes. Die Wahlbeteiligung lag bei 47,1 %. Man erzählt mir, dass viele Urnengänger ihre Stimmzettel bewusst ungültig gemacht hätten. Der Kommentar eines Akademiemitgliedes: „Die Qual der Wahl zwischen: welche Diebe mich bestehlen, oder welche Mörder mir befehlen, das konnte ich mit meinen Gewissen nicht vereinbaren.“
Die öffentliche Wahlkampfveranstaltung der AfD auf dem Marktplatz erinnert eine befreundete Künstlerin aus der Schweiz an die Insassenversammlung eines Sanatoriums im Emmental. Im Vergleich zu den selbstsicheren SVP-Bonzen in der Schweiz würden diese Leute hier aber einen eher harmlosen Eindruck machen. Auf und vor der Rednerbühne wedeln Männer in beiger Funktionskleidung mit kleinen Deutschlandflaggen. Die Schweizerin erkennt in den grauen Gesichtern eine "resignierte Traurigkeit". Das ist jetzt also das berüchtigte Dunkeldeutschland? Die SVP in der Schweiz würde da schon mit einem ganz anderen Selbstverständnis auftreten. Auch das, was man hier von der Rednerbühne höre (der Gauland lamentiert über die GEZ), fände sie für Rechtspopulisten schon ziemlich brav. Die größte Enttäuschung sei aber die Nazi-Demonstration. Sie habe erwartet, dass es da rundgehen würde. Stattdessen hinterlassen sowohl Nazis als auch Antifa einen erbärmlichen Eindruck - als ob man vor der Demo allen ein Sedativum verpasst hätte. Anscheinend leiden sogar die Radikalisiertesten dieser Stadt unter jener kollektiven Erschöpfung, die ein Spiegel-Artikel erst kürzlich detailliert beschrieben hat. Auch meiner Schweizer Freundin wurde zum Abschied ihres Aufenthalts das Café Z. empfohlen. Man könne dort hervorragend Zürcher Geschnetzeltes essen. Sie hat sich mit dem Wirt recht gut unterhalten, das Geschnetzelte aber war grauenhaft.
In der Nacht zum 1.Mai ist im und um das Haus herum nichts passiert - außer, dass die große EU-Flagge hinter der Hofeinfahrt mit klar sichtbarer Gewalt hinuntergerissen wurde. Die Deutschlandflagge und die Geraer Stadtflagge an den beiden anderen Masten blieben unversehrt. Außerdem wurde im Parterre ein Fenster durch eine Bierflasche eingeschmissen. Die Flaggen hängen weiterhin aus ihren Fenstern und das Gebäude sieht aus, als ob es eine UNO-Konferenz beherberge - nur etwas chaotischer. Es regnet und Windböen ziehen ums Haus. Immer wieder weht eine Flagge aufs Fensterbrett, während eine andere Flagge heruntergeweht wird. Das Szenario erscheint mir fast wie eine Art Perpetuum Mobile, das die Unordnung in der Welt widerspiegelt. Ich freue mich über das ungewollte Flaggen-Chaos und ärgere mich zugleich ein wenig, denn ich hatte das so nicht geplant. Als die Flaggen immer nasser werden, fangen sie an, an den Fenstersimsen festzukleben. Mit meiner Projekt-Assistentin und dem Gast aus der Schweiz gehe ich am Nachmittag von Raum zu Raum, nehme jede Flagge einzeln ab, tackere zur Beschwerung einen Bambusstab ans untere Ende und hänge sie wieder raus. Leider hilft auch das nicht. Während der mehrstündigen Flaggen-Korrekturarbeit beobachte ich immer wieder, dass Passanten vor dem Gebäude stehenbleiben und es fotografieren. Es entstehen Diskussionen. Manche schauen recht verdutzt drein und schütteln den Kopf, andere wiederum zeigen auf unterschiedliche Flaggen und liefern sich einen Wettstreit im Flaggenraten. Ein älterer Herr mit Kapitänsmütze auf einem motorisierten Dreirad schimpft laut: „Was soll jetzt dieser Flaggenscheiß hier? Haben wir nicht schon genug Ärger?!“ Als ich auf die Straße hinausgehe, spricht mich eine extrem dünne Frau unbestimmbaren Alters an. Sie hat ein eingefallenes Gesicht mit grünem Teint und an den Wangen klebenden, fettgrauen Haaren: „Also jetzt mal... das ist hier ja wie beim DDR-Sportfest! Wie lange bleibt das denn so? Ich wohne ja direkt gegenüber und solange das da ist, kann ich nicht auf meinen Balkon raus. Da bekomme ich ja einen Farbenschock!“
Als ich so vor dem Haus stehe und über die Situation nachgrüble, gesellt sich ein junger Mann zu mir. Er fragt mich, ob das eine politische Aktion sei. Ich erkläre ihm, es handle sich um ein Projekt der Kunstakademie mit dem wir einen Gruß an alle Arbeiter*innen aussenden wollen. Er erwidert, dass da eine Flagge fehlen würde. Ich frage, welche denn. Er: „Da fehlt noch eine Hakenkreuzflagge. Der Hitler war doch auch Künstler, oder?". Die Hakenkreuzflagge müsste dann eigentlich auch noch mit ran. Außerdem habe der Hitler ja Autobahnen gebaut und einen Traktor konstruiert. Und er selbst habe diesen Traktor sogar nach Originalplänen nachgebaut! Er stehe zu Hause in seiner Garage. „Wenn du willst, kannst du gleich mal mitkommen und meinen Traktor anschauen, dann können wir gemeinsam auf ein Bettlaken die Flagge malen und du kannst sie dann gleich mitnehmen!“.
Ich schaue den untersetzten, rothaarigen jungen Mann an und bin baff. Ich frage ihn, wer er denn sei. Er sagt, man würde ihn „Panzerkreuzer“ nennen und er sei Reichsbürger. Er sei polizeibekannt, aber die würde ihm nichts tun. Ich frage: „Reichsbürger gibt‘s hier also auch?“. Er: „Ja natürlich! Wir sind so um die 250 Leute und treffen uns einmal die Woche zum Diskutieren in einer Kneipe im Zentrum“. Ich frage, was man denn bei diesen Zusammenkünften besprechen würde. Er ganz selbstverständlich: „Wir diskutieren z.B. momentan darüber, wie wir Gera schöner machen können. Die Stadt hat ja ein ziemlich verlottertes Zentrum mit viel Leerstand und Freiflächen. Wir wollen deshalb Häuser aus Sandsäcken bauen. Wir haben im Fernsehen die Häuserruinen in Aleppo gesehen und wie die Menschen die Löcher in den Wänden nach den Bombenangriffen mit Sandsäcken zustopfen. Das finden wir schön und haben gedacht, wir wollen das jetzt auch in Gera machen.“
Er möchte wissen, was es denn mit dieser hellblauen Flagge mit dem Lorbeerkranz und der Weltkugel auf sich habe. Die habe er noch nie gesehen. Ich sage, das sei die Flagge der UN. Der was? Na, der Vereinten Nationen. Noch nie gehört! Ich versuche, ihm in ein paar Sätzen zu erklären, was die UN ist. Er ist begeistert und konstatiert: „Das ist ja fast wie bei uns Reichsbürgern! Wir wollen auch allen helfen, egal ob Flüchtling oder Penner!“
Es gesellt sich eine junge Frau zu ihm, die sich als seine Freundin ausgibt, und zieht den Panzerkreuzer weiter. Wie zur Entschuldigung sagt sie zu mir im Gehen: „Also ich verstehe hier schon lange nichts mehr!“.
Am Nachmittag zieht wie angekündigt die Demonstration der Rechtsradikalen am Haus vorbei und skandiert „USA - Völkermordzentrale - USA“. Sie tragen rote T-Shirts mit Aufschriften wie „Heimat“ oder „Familie“. Auf den Transparenten steht: „Arbeit adelt!“. Ein paar junge Männer in Matrosenuniformen tragen ein Gummiboot, in dem zwei schwarze Affenpuppen mit Rettungswesten liegen. Es werden Fahnen im Mohammedanischen Grün geschwenkt, die Aufschrift ist weiß und schnörkelig, aus einiger Distanz könnte man sogar an eine in Zeit und Raum teleportierte radikalislamistische Demo denken.
Mein Gastgeber, der Betreiber des Kulturzentrums, schickt mir eine in strengem Ton gehaltene Email. Ich solle umgehend dafür sorgen, dass die Flaggen ordentlich aus den Fenstern raushängen. Das Haus sähe ja aus wie ein Hippieladen und die Presse könne so überhaupt keine guten Fotos machen. Ich solle ihm schnellstmöglich ein gutes Foto schicken, damit er endlich seine Pressemitteilung rausschicken könne. Ich antworte, dass es momentan Sturmböen bis zu Windstärke 60 gäbe und wir zu dritt um die Befestigung der Flaggen kämpfen würden. Außerdem habe die „TZ“ schon längst einen Bericht mit einem schönen großen Foto auf der ersten Seite gebracht. Ob ich ihm den Artikel schicken solle. Keine Antwort. Mein Gastgeber ist Mitglied bei den Grünen und hat jahrelang in einer Kommune gelebt. Ich wundere mich, dass gerade er etwas gegen eine bunte Hippiebude hat. Er wird zukünftig noch grantiger auf meine Arbeit reagieren. Mir wird zugetragen, er beschwere sich darüber, dass ich wie ein Guru auftreten, alle Wahnsinnigen der Stadt um mich versammeln und statt Kunst Sozialarbeit machen würde. Besonders wird er sich darüber aufregen, wie ich Gera zuerst zur Kulturhauptstadt Europas 2025 proklamiere, damit in der Bürgerschaft große Hoffnungen wecke, dann aber lauter Sachen produziere, die ihm ästhetisch nicht zusagen. Zum Beispiel eine Büste, die ein gelbes T-Shirt mit dem Slogan „Make Gera Great Again" und eine Familiendose Haribo-Bananen unter dem linken Arm trägt, in der Nähe des Rathauses zu postieren. Oder das ungefilterte Feedback der Bevölkerung zur Aktion auf Monitore zu spielen, diese auf Mülltonnen in Schaufenstern einer ehemaligen Bierkneipe zu präsentieren und zu guter Letzt das Projekt auch noch über einen offenen Brief in der Zeitung platzen zu lassen. Er habe ja eigentlich schon vorher gewusst, dass ich ein Hochstapler sei und seine Managerin (eine Kunstprofessorenassistentin aus Leipzig) habe auch schon recht früh geahnt, dass ich für solcherlei Aufgaben nur mangelhafte Gestaltungskompetenz mitbrächte - aber was ich da jetzt abliefere, das sagt man mir, dass er über mein Handeln sage, sei wirklich unter aller Sau.
Unter lokalen Expert*innen entsteht bald eine Debatte darüber, ob das, was ich mache, Kunst oder Klamauk sei. Einige Gersche freuen sich fast schon diebisch über die Aktionen und zeigen sich höchst engagiert, im Kunst-Kollektiv das lokale Establishment aus der Fassung zu bringen. Ein Akademiemitglied, der u.a. „Nacktwandern auf dem Rennsteig “ veranstaltet, spornt mich an: „Mann, das was Du hier machst, ist so geil! Da bekommt man richtig Bock darauf, Störenfried zu werden!“. Eine Malerin, die in der Nachbarschaft ihr Atelier hat, schreibt mir in einer SMS, ich hätte eine unheimliche Aura entwickelt und sie müsse deshalb zukünftig Distanz zu mir halten. Eigentlich habe sie eine Schwitzhütte im Wald bauen und mich zum Natur-Saunieren einladen wollen, aber leider würde das für sie jetzt nicht mehr in Frage kommen. Ein paar Tage später erfahre ich, ich würde die jungen Frauen in meiner Umgebung belästigen.
Nachdem der Vorsitzende des örtlichen Kunstvereins nach dem Besuch der finalen Kunstakademie-Ausstellung mit dem Titel „Im Land der Germonen“ die Kooperation mit mir aufkündigt und ich plötzlich ohne zukünftigen Projektraum dastehe, ruft mich meine Projekt-Assistentin aufgewühlt an: „Maurice, das ist ja wie bei Shakespeare! Alle seine Figuren treten hier in kurzer Abfolge auf! Es benötigt nur einen auswärtigen Künstler, der einmal kurz in die Blase sticht, und der ganze Eiter spritzt heraus!“.
Liz, unser ältestes Akademiemitglied (Malerin, 80) produziert eine Edition gebatikter Gera-Heultücher. Ein Zimmermann baut mir ein „Germonium“, mit dem ich durch laut raschelndes Schütteln die bösen Geister aus der Stadt vertreiben soll. Langsam frage ich mich, ob ich vielleicht selbst ein böser Geist bin.
Am frühen Nachmittag klingelt es an der Haustür. Es ist der Panzerkreuzer. Er hält ein Bettlaken in der Hand, auf dem eine Hakenkreuzflagge gemalt ist. Er habe sie in seiner Garage angefertigt und wolle sie nun vorbeibringen, damit ich sie heute noch aufhängen könne. Er drückt sie mir in die Hand und verschwindet sofort. Ich stehe ziemlich perplex im Hausflur und denke nach. Ich hatte ja angekündigt, dass jeder mitmachen darf. Aber jetzt das? Die Lösung: Die Flagge wird radikal-modifiziert! Eines meiner Akademiemitglieder ist stadtbekannter Friedensdemo-Aktivist und Bannermaler. Ich besuche ihn im Atelier und zeige ihm die neue Flaggengabe. Er nörgelt in breitem Thüringisch: "Sofort verbrennen!“. Ich erwidere, dass ich das nicht machen und ihn stattdessen bitten wolle, die Hakenkreuzflagge mit allerlei Motiven zu ornamentieren. Er meint, wenn ich ihm volle künstlerische Freiheit überlasse, sei er dabei. Das Werk wird über Nacht fertig und ich hänge es aus einem gut sichtbaren Fenster. Am kommenden Tag ziert ein Foto des beflaggten Hauses die Titelseite der zweiten Lokalzeitung. Überschrift: „Bunte Flaggen am Kulturzentrum stehen für Vielfalt“. Die Hakenkreuzflagge wird nicht kommentiert. Vom Panzerkreuzer höre ich nichts mehr. Einige Tage später treffe ich auf einer Veranstaltung, welche die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Geras diskutiert, den Kulturbeauftragten der Stadt. Er schüttelt mir kräftig die Hand und sagt: „Ich gratuliere Ihnen. Es ist phänomenal, was Sie in so kurzer Zeit für unsere Stadt bewirkt haben! Ich hoffe, Sie bleiben uns hier in Gera auch in Zukunft erhalten!“
Eine Überraschungsbesucherin der Arbeitsgruppe „Kunst im Brennpunkt“ einer Berliner Sozial-Hochschule erscheint zum großen Plenum vor der finalen Akademie-Veranstaltung am 07.07.17. Sie trägt ein Shirt mit der Aufschrift „White Males Are Terrorists“ und hält ein Stück braune Seife hoch. Sie blickt streng in die Runde und erklärt uns, sie käme gerade vom arabischen Supermarkt um die Ecke. Da stehe eine Kiste mit original Aleppo-Seife für €2.- das Stück. Der Kassierer habe ihr erzählt, dass die Box der letzten Produktionsserie der berühmten syrischen Seifenfabrik Aleppo entstamme, bevor diese 2016 ausgebombt wurde. Sie möchte, dass wir die gesamte Kiste aufkaufen und mit ihrem Inhalt zur Abschlussausstellung ein politisches Kunstwerk erschaffen. So etwas wie eine Waschperformance im öffentlichen Raum. Thema: Die Seife als Symbol der Hygieneproblematik von Frauen in Kriegsgebieten. Sie möchte darüber ihre Semesterarbeit machen. Ob wir ein paar syrische Frauen in der Stadt kennen, die da mitmachen würden. Ich spreche sie auf Gomringers „Avenidas“ an. Sie sagt, sie fände es total unverständlich, wie krude da argumentiert werde, nur weil ein paar reflektierte Frauen für mehr Toleranz in der Gesellschaft kämpften. Sie fragt mich, wie ich über die Sache denke. Ich erwidere, ich müsse jetzt mal kurz den Mansplainer geben: "Luhmann prophezeite schon in den 80ern, dass die idiosynkratischen Identitätspolitiken der sich immer komplexer aufsplitternden Formationen hermetischer Mikroideologien am Ende des Zeitalters der europäischen Aufklärung zur Ursache alles Bösen in der Welt werden würden. Egal ob in Gera, Berlin, oder sonst wo: die Gesellschaft ist im Eimer!“ Sie schüttelt den Kopf. Ich bin ein böser Geist.
Paper0318
01.03.2018
Installation (histoire gortesque)
Textfassung